Wir sind Teil der Geschichte
Über die Ausstellung "Gefesselte Blicke. Filmplakate der 1920er Jahre" - von Katrin Richter
Die Ausstellung sei »Doppelt vintage«, sagte eine Studentin, nachdem sie ihren Text über ein Filmplakat bei der Vernissage »Gefesselte Blicke. Filmplakate der 1920er Jahre« vorgestellt hatte. Die Ausstellung war am 14. Juni 2023 in der Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar eröffnet worden und wird ab November 2023 auch in der Universitätsbibliothek der Universität Erfurt zu sehen sein. Gezeigt werden Filmplakate aus den Jahren 1919 bis 1932, und damit sind sowohl Staunen und Faszination als auch Widersprüche, Irritationen und Ablehnung vorprogrammiert. Staunen und Faszination, weil der einstige Gebrauchsgegenstand längst zum seltenen Sammlungsobjekt aufgestiegen ist und die großformatigen, teilweise originalen Plakate durch ihre Farbigkeit, Typografie und Themensetzung beeindrucken. Widersprüche, Irritationen bis hin zur Ablehnung, weil die Objekte nicht in jedem Fall mit unseren heutigen demokratischen Wertevorstellungen übereinstimmen und Betrachter*innen und Projektbeteiligte andere Sichtweisen als die damaligen vertreten können und müssen. Grundsätzlich zählen Stummfilme und ihre Plakate zu den herausragenden historischen Quellen, die uns Einblicke in die Kinowelt und damit in die Lebenswelt der Menschen vor 100 Jahren geben. Immerhin handelt es sich um Zeugnisse, die unsere Urgroßeltern sahen, die sie moralisch prägten und damit in gewisser Weise auch uns.
Eine Ausstellung zur Weimarer Stummfilm-Retrospektive »Lob dem Lichtspiel«
Das Leinwandgeschehen Weimars vor 100 Jahren im universitären Kontext zu erforschen, dieses Vorhaben wurde seit den 100-Jahr-Feierlichkeiten der Gründung der Weimarer Republik und der Gründung des Staatlichen Bauhauses im Jahr 2019 verstärkt in Angriff genommen. Gemeinsam mit lokalen Akteur*innen wie dem Lichthaus Kino, dem Stadtarchiv Weimar und dem Stummfilm-Musiker Richard Siedhoff initiierten wir – Simon Frisch, Gerrit Heber und ich von der Bauhaus-Universität – die Weimarer Stummfilm-Retrospektive im Rahmen des Kunstfest Weimar. Die von Expert*innen und Musiker*innen begleiteten Stummfilm-Vorführungen im Lichthaus Kino stießen auf ein reges Interesse, sodass die Veranstaltungsreihe fortgesetzt und um Aufführungen mit der Staatskapelle Weimar und der Thüringen Philharmonie Gera-Eisenach im Deutschen Nationaltheater Weimar erweitert wurde. Darüber hinaus gab es im Lichthaus Kino flankierende Ausstellungen, um die einzelnen Filme mit Texten und reproduzierten Abbildungen darzustellen. Das sollte die Aufmerksamkeit von Kinogänger*innen stärker auf das deutsche Stummfilmerbe lenken, von welchem heute nur etwa zehn Prozent erhalten sind. Nicht selten stellen Filmplakate mittlerweile das einzige materielle Zeugnis eines Filmes dar. Umso folgerichtiger gestaltete sich unsere Intention, einmal originale Filmobjekte aus der Weimarer Republik ausstellen zu wollen. Mit dem Experten des Weimarer Kinos Patrick Rössler, Professor an der Universität Erfurt, konnten wir einen wichtigen Partner ins Boot holen, um das kooperative Projekt von Bauhaus-Universität Weimar und Universität Erfurt zu entwickeln und umzusetzen.
Ausstellungsorte sind die Universitätsbibliotheken Weimar und Erfurt
In der Folge legten wir die Universitätsbibliotheken in Weimar und Erfurt als Ausstellungsorte fest. Sie sind öffentliche Bildungsorte, zu denen alle Menschen kostenfreien Zugang haben. Auch verfügen beide Einrichtungen über besondere filmwissenschaftliche Bestände: das Filmkunstarchiv Heimo Bachstein in Weimar und die Sammlung Filmpublizistik in Erfurt. Diese Sammlungen sind in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Portal »Wissenschaftliche Sammlungen« als »einzigartige Zeugnisse der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte sowie bedeutender Teil des kulturellen Erbes" (Die Zahlen basieren auf einer Statistik des Portals »Wissenschaftliche Sammlungen« vom 3.9.2022. [https://portal.wissenschaftliche-sammlungen.de/kennzahlen; abgerufen 23.8.2023]) nachgewiesen. Derzeit sind 1.132 Sammlungen an 77 deutschen Universitäten registriert, allerdings befinden sich darunter keine Sammlungen des frühen Kinos. Diese sind vor allem in Filmarchiven und Filmmuseen aufzuspüren.
Weiterhin gibt es an beiden Bibliotheken in Weimar und Erfurt vielfältige Ausstellungserfahrungen. Exemplarisch seien Ausstellungen genannt, die sich mit der Film-Thematik befassten: Zunächst die Ausstellung »Filmkunstarchiv Heimo Bachstein. Einblicke in die Sammlung eines Enthusiasten«, die 2015 aus einem Seminar heraus entstand und die in eine Publikation, eine Ausstellungsbeteiligung an der Akademie der Künste Berlin
und weiterführende Seminare zur Kontextualisierung der 50.000 Objekte mündete (Katrin Richter: »Wie kommt eine Sammlung in ein Buch? Die Schenkung Heimo Bachstein der Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar«, in: AKMB-News. Informationen zu Kunst, Museum und Bibliothek 23 (2017) H. 2, Düsseldorf: AKMB, S. 49–53). Ferner wurden in der 2016 in der Universitätsbibliothek Weimar durchgeführten Ausstellung »frame by frame« die Texte von Weimarer Studierenden der Medienkultur und Mediengestaltung typografisch und künstlerisch aufgearbeitet, die auf der Grundlage von Eindrücken der Exkursionen zu den Internationalen Filmfestspielen von Berlin für die studentische Zeitschrift Kinoheft entstanden waren. In der Universitätsbibliothek Erfurt wurden mit den groß angelegten Ausstellungsprojekten »Die Sprache des Stummfilms« (2006) und »Die Bilder des Tonfilms« (2014) – ebenfalls zurückgehend auf jeweils zweisemestrige Forschungsseminare – bereits zahlreiche Ephemera aus der Filmpublizistik des 20. Jahrhunderts präsentiert.
Die Ausstellung ist Teil der universitären Lehre
Von Anfang an war klar, dass die Ausstellung zu den Filmplakaten der 1920er Jahre ebenfalls eine Möglichkeit für die universitäre Lehre bietet, sich anhand cinephiler Objekte mit verschiedenen Aspekten der frühen Filmkultur zu befassen und diesen experimentellen Ansatz weiter zu etablieren.
Bereits vor dem Beginn des Sommersemesters 2023 war der Schwerpunkt bei der Plakatauswahl auf die Thematiken Rollenverhältnisse und Geschlechterdifferenzen durch den Titel »Gefesselte Blicke« fixiert worden, um eine Eingrenzung des Materials vorzunehmen. Diese Entscheidung lag auch in den Erfahrungen mit dem kooperativen Projekt QUEER.LIT begründet, das zwei Semester zuvor von Weimarer Studierenden initiiert worden war, um auf die queer-feministische Literatur der Universitätsbibliothek Weimar hinzuweisen und Denkanstöße anzuregen.
Für die Ausstellung »Gefesselte Blicke« sah das Konzept der Lehrenden aus Weimar und Erfurt nun vor, dass die Studierenden zunächst aus einem Fundus von 80 Plakaten 39 Motive auswählten, mit denen sie sich schließlich intensiver auseinandersetzten und die für die Ausstellung vorgesehen wurden. Weiterhin gab es eine Einteilung in zwei Gruppen, um die Aufgaben des Recherchierens sowie die Aufgaben des Schreibens innerhalb der Textwerkstatt von Kathleen Kühn wahrzunehmen. Auch wurden die Studierenden mit der Praxis des Ausstellens vertraut gemacht, indem sie beim Ausstellungsaufbau mitwirkten.
Zur Eröffnung der Ausstellung am 14. Juni 2023, zur Langen Nacht des wissenschaftlichen Schreibens am 22. Juni 2023 und im Rahmen der summaery-Jahresschau der Bauhaus-Universität Weimar am 14. Juli 2023 präsentierten die Studierenden den Stand ihrer Texte und stellten sich damit einer interessierten Öffentlichkeit. Anschließend ließen sie die Hinweise der Zuhörer*innen in ihre Texte einfließen und formten diese weiter aus, um sie in eine druckreife Version für die nun vorliegende Publikation zu überführen.
Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen
Wird mit der Ausstellung Geschichte vergegenwärtigt? Dürfen Plakate öffentlich gezeigt werden, auf denen stereotype, diskriminierende Begriffe zu sehen sind? Dürfen Plakate gezeigt werden, deren Filme als verschollen gelten? Könnten darin vielleicht Ansichten vertreten werden, die mit unseren heutigen freiheitlichen Vorstellungen nicht übereinstimmen? Zählen diese dann noch zu dem zu bewahrenden, kulturellen Erbe dazu oder sollten sie besser abgehängt werden? Dürfen Objekte überhaupt gezeigt werden, bevor sie wissenschaftlich kontextualisiert sind? – Und was heißt eigentlich »Doppelt vintage«? Ist damit gemeint, dass die teilweise hundertjährigen Plakate heute besonders gefragt sind, weil wir durch sie Geschichte studieren können?
Die Ausstellung »Gefesselte Blicke« gibt uns die Möglichkeit, in gesellschaftliche Diskurse mit Universitätsangehörigen, der Stadtgesellschaft und kulturinteressierten Personen einzutreten, uns über das Gesehene auszutauschen, Narrative aufzubrechen und auch das Heute – gemeinsam mit unterschiedlichen Akteur*innen – zu reflektieren. Diese kollektiven Prozesse sind wichtig, um einerseits neues Wissen zu generieren. Andererseits können wir uns anhand der medienhistorisch interessanten Filmplakate auch als Teil der Geschichte und unserer Geschichten begreifen. Die Filmwissenschaftlerin Prof. Dr. Heide Schlüpmann beschrieb diese Auseinandersetzung der Gegenwart anhand historischen Filmmaterials in ihrer Eröffnungsrede anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung des ersten deutschen Kommunalen Kinos in Frankfurt am Main am 16. Juni 2022 wie folgt:
»Das Kino hat einmal als Massenkino begonnen und hat sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Ort von Menschen verschiedenster Herkunft, gleich welchen Alters und Geschlechts entfaltet. Von diesem massenkulturellen Phänomen Kino sind wir weit entfernt, weiter denn je, den Trend konnten auch die Multiplexe nicht aufhalten. Doch wir haben Zeugen der Zeit eines solchen Kinos: das sind die Filme, die es geschafft haben, Verschleiß und Zerstörung zu überdauern. Heute auf die Leinwand projiziert, vergegenwärtigen sie auch ein Geschichte-gewordenes Publikum. Filme sind nicht als unser Besitz zu sehen und zu nehmen, sie gehören der Geschichte an, deren Teil wir sind. Statt blind in ihr zu leben, öffnen sich ihr im Kino unsere Augen.«
(Heide Schlüpmann: Das Kino des DFF – 50 Jahre Geschichte. Eröffnungsvortrag anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung des ersten deutschen Kommunalen Kinos in Frankfurt am Main, 16.6.2022. [https:// www.dff.film/50-jahre-koki; abgerufen 8.8.2023]).
Und wie die Filme gehören die in der Ausstellung »Gefesselte Blicke« und in dem vorliegenden Katalog gezeigten Filmplakate zu unserer Geschichte dazu.