Ausstellungseinleitung
Was erfahren wir, wenn wir Bücher nicht nur als Texte, sondern auch als physische Artefakte untersuchen? Ob eine teure Bibel oder ein billiges Reclam-Taschenbuch – jedes Buch enthält materielle Anhaltspunkte für die Umstände seiner Herstellung. Oft finden sich auch sichtbare Hinweise auf frühere Leser:innen, Verwendungszwecke oder Sammlungspraktiken. Diese Spuren geben Einblicke darin, wie einzelne Bücher erworben, benutzt und aufbewahrt wurden – und erzählen gleichzeitig größere Geschichten über Wissen, Lesen und den Alltag.
Jedes Buchexemplar hat also seine eigene Biografie – eine Lebensgeschichte, die sowohl von seinen Ursprüngen als auch von verschiedenen Erfahrungen geprägt ist.
Diese Ausstellung erzählt die Geschichten von sieben Büchern aus der allgemeinen Sammlung der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. Bücher aus Sondersammlungen und Rara-Lesesälen erhalten typischerweise die größte Aufmerksamkeit von Forschenden. Eine wachsende Zahl an Studien zeigt aber: Auch Bücher, die auf den gewöhnlichen Freihandregalen von Universitätsbibliotheken zugänglich sind, können wertvolle historische Einblicke geben.1 Dies gilt insbesondere für Universitäten wie die Humboldt-Universität, die ihre Sammlungen seit dem 19. Jahrhundert aufbauen. Widmungen, beigelegte Objekte oder handschriftliche Notizen in Exemplaren stellen die verbreitete Annahme in Frage, dass scheinbar identische Ausgaben keinen besonderen Erkenntniswert haben. Gleichzeitig können Hinweise zur Herkunft eines Buchs – etwa Exlibris oder Bibliotheksstempel – Aufschluss über historische Nutzung und Zugangswege geben, die sonst im Verborgenen bleiben.
Die hier vorgestellten Bücher geben einen Einblick in die Vielfalt der Sammlung einer großen deutschen Universitätsbibliothek – von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute. Im Zusammenspiel zeigen sie eine große Bandbreite an Sprachen, Genres, Themen, Formaten, Publikationspraktiken und Sammlungsgeschichten. Und sie machen deutlich, wie viele spannende Perspektiven sich eröffnen, wenn man Bücher als einzigartige Objekte betrachtet.
In den Geschichten der unten vorgestellten Bücher stecken eine royale Besitzerin ebenso wie ganz normale Familien; Verleger, die wegen ihrer Identität und Überzeugungen verfolgt wurden; sich wandelnde Vorstellungen von Luxus und Massenproduktion – und Überraschungen, die selbst vertraute Texte bereithalten, wenn sie in neuen Ausgaben wieder erscheinen. Diese Ausstellung lädt dazu ein, genau diesen Geschichten auf den Grund zu gehen.
- Siehe auch: Looted Cultural Assets Project; Rotunda Library Online; Andrew M. Stauffer, Book Traces: Nineteenth-Century Readers and the Future of the Library (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2021); Samuel V. Lemley, Neal D. Curtis und Madeline Zehnder, „Historical Shelfmarks as Sources for Institutional Provenance Research: Reconstructing the University of Virginia's First Library“, The Papers of the Bibliographical Society of America 118, no. 1 (2024): 79-101.