PROLOG
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Am 30. Januar 1933 begannen zwölf Jahre nationalsozialistische Diktatur. Millionen Menschen wurden vom NS-Regime aus ideologischen, ethnischen oder politischen Gründen verfolgt: Juden, Sinti und Roma, Sozialdemokraten, Kommunisten, Homosexuelle, Christen … Mit der Verfolgung verbunden war ein millionenfacher Raub: von Grundstücken, Firmen, Alltagsgegenständen, Kunstsammlungen … Die Eigentümer_innen mussten aus Deutschland fliehen, wurden interniert, ermordet.
Sofern nicht zerstört, finden sich geraubte Objekte, die als NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut (kurz NS-Raubgut) bezeichnet werden, heute in Kultureinrichtungen auf der ganzen Welt, aber auch in Privatbesitz. Sie können durch Besitzspuren (Provenienzmerkmale) – in Büchern, beispielsweise Stempel, Etiketten, Autogramme und Exlibris – manchmal ihren ehemaligen Eigentümer_innen zugeordnet und zurückgegeben werden. Die Recherchen dazu werden als Provenienzforschung bezeichnet.
Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur trafen sich in Washington D.C. Expert_innen, Politiker_innen und Opferverbände, um über den Umgang mit NS-Raubgut zu diskutieren. Am 3. Dezember 1998 wurde die "Washingtoner Erklärung" verabschiedet: Alle unterzeichneten Staaten verpflichteten sich, die zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 geraubten Kulturgüter zu identifizieren und an ihre ursprünglichen Eigentümer_innen oder deren Nachkommen zurückzugeben (Restitution). Im Jahr darauf bekannte sich Deutschland mit der „Gemeinsamen Erklärung“ zur Suche nach NS-Raubgut in deutschen Kultureinrichtungen. Anders als in anderen europäischen Staaten gibt es für Deutschland abgesehen von dieser moralischen keine gesetzliche Verpflichtung zur Suche nach NS-Raubgut in öffentlichen und privaten Sammlungen.
Die heutige Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) geht zurück auf die Mitte des 16. Jahrhunderts entstehende Privatbibliothek des sächsischen Kurfürsten August (1526–1586). Die von seinen Nachfahren in den folgenden Jahrhunderten weiter ausgebaute, ab 1788 für die Öffentlichkeit zugängliche Büchersammlung ging 1920 in das Eigentum des sächsischen Staates über. Die mittlerweile Sächsische Landesbibliothek genannte Einrichtung profitierte während des Nationalsozialismus, aber auch in späteren Jahren vom NS-Bücherraub und baute mit geraubten Büchern ihren Bestand aus. Ihre Nachfolgerin, die SLUB, steht zu ihrer Verantwortung, mit diesem Erbe umzugehen.
Im Fall von erwiesenem NS-Raubgut betrachtet sich die SLUB als Nachfolgerin der Sächsischen Landesbibliothek nicht als Eigentümerin der in ihrem Bestand befindlichen Objekte. Sie bemüht sich um eine Rückgabe an die Eigentümer_innen oder um andere gerechte und faire Lösungen im Sinne der "Washingtoner Erklärung" von 1998.
In zwei Drittmittelprojekten hat die SLUB bisher ihre Bestände auf NS-Raubgut überprüft:
Zwischen 2011 und 2013 standen die Erwerbungen der Jahre 1933 bis 1945 im Druckschriften- und Handschriftenbestand im Mittelpunkt. Über 1.000 Fälle von NS-Raubgut konnten identifiziert werden. In einem zweiten Projekt, durchgeführt von 2017 bis 2020, wurden die nach 1945 und bis in die 1990er Jahre von der Landesbibliothek getätigten Erwerbungen überprüft. Unter über 200.000 inventarisierten Bänden des Druckschriftenbestandes konnten bisher rund 2.000 identifiziert werden, die eindeutig NS-Raubgut sind.
Am Besitz der vom NS-Regime Verfolgten bedienten sich der Staat, aber auch Privatpersonen. Viele NS-Organisationen bauten Bibliotheken mit geraubten Büchern auf. Privatpersonen profitierten bei öffentlichen Versteigerungen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es „herrenlose“ Bestände, deren ursprüngliche Eigentümer_innen nicht ohne Weiteres identifiziert werden konnten. Sie wurden an wissenschaftliche Bibliotheken verteilt oder über den Antiquariatsbuchhandel verkauft. Auch die Sächsische Landesbibliothek erhielt während und nach der nationalsozialistischen Diktatur zahlreiche Bücher von Menschen, die während des NS-Regimes emigriert, geflüchtet, deportiert oder ermordet worden waren. Die Ausstellung veranschaulicht dies anhand von drei Beispielen.
Die Aufgabe der NS-Raubgut-Forschung ist es, herauszufinden, ob ein Buch oder ein anderes Objekt NS-Raubgut ist: Merkmale und Vorbesitzer_innen müssen identifiziert, Biografien und Geschichten recherchiert, Verfolgungsschicksale rekonstruiert werden. Haben mehrere Vorbesitzer_innen Spuren im Buch hinterlassen, muss geklärt werden, in welcher Reihenfolge und wann Besitzer_innenwechsel stattgefunden haben. Dabei begleiten Lücken die Arbeit von Anfang bis Ende. Neben Finanzierungslöchern sind es insbesondere fehlende Informationen über Vorbesitzer_innen und deren Schicksal, die die Forschung erschweren. Recherchen können diese Lücken füllen, aber niemals vollständig.
NS-Raubgut-Forschung bedeutet vor allem, Informationslücken zu schließen. Meistens fehlen Archivquellen, mit denen sich Eigentümer_innenketten, Biografien oder Entzugsvorgänge erklären lassen. Hilfreich ist es, wenn andere Forschende schon grundlegende Informationen über Personen oder Institutionen gesammelt und veröffentlicht haben. In der Literatur finden sich bisweilen Hinweise auf Schicksale und Enteignungen. Oft ergeben sich dadurch aber auch weitere Fragen.
Das von Ulrike Migdal 2008 herausgegebene Buch „Wann wohl das Leid ein Ende hat. Briefe und Gedichte aus Theresienstadt“ widmet sich dem Werk Ilse Webers. Es enthält neben einem Essay zum Leben der deutsch-tschechischen Schriftstellerin auch eine umfangreiche Sammlung ihrer Briefe und Gedichte. Die Biografie Ilse Webers und ihr literarisches Schaffen legen Zeugnis ab von ihrem Verfolgungsschicksal und dem ihrer jüdischen Familie in der Zeit vor und während des Holocaust.
Ein möglicher Ansatzpunkt für die Forschung sind Erinnerungen von Zeitzeug_innen. In Biografien oder Befragungen können Beschlagnahmen oder andere Details der „Verwertung“ Erwähnung finden. Manchmal sind das nur kleine Passagen, die aber für einen Fall mitunter große Bedeutung haben und sich nicht in Archivunterlagen widerspiegeln würden. Erinnerungen können auch fehlerhaft sein, daher sollten sie immer überprüft werden. Manches wissen Zeitzeug_innen auch nicht, manches verschweigen sie.
Ilse Schumann und Gabriele Reinhardt gingen davon aus, dass die Rathenower Arbeiterbibliothek zerstört worden war. Dass diese Annahme falsch ist, zeigen die in der SLUB, aber auch in der Staatsbibliothek zu Berlin gefundenen Bücher, die Stempel der Arbeiterbibliothek tragen.
Die Autorinnen hatten demnach keine Kenntnis darüber, dass Bücher nach 1933 in unbekannter Menge aus der Rathenower Bibliothek entfernt und an einen anderen Ort verbracht worden waren. Vielleicht gab es dafür vor Ort keine Zeug_innen.
Wer waren die Personen und Institutionen, die ihre Spuren in Büchern hinterlassen haben? Und wenn ein Buch mehrere Vorbesitzer_innen hatte, in welcher Reihenfolge haben Eigentumswechsel stattgefunden? Wer wurde durch das nationalsozialistische Regime verfolgt? Das sind die wichtigsten Lücken, die bei der Identifizierung von Eigentümer_innen geschlossen werden müssen.
Die Vielzahl von Namen der Personen und Organisationen, von zugehörigen Büchern und historischen Zusammenhängen ist nicht leicht zu durchdringen. Diese Erfahrung machten wir in unserem Projekt an der SLUB ebenfalls. Über drei Jahre behielten wir mehr als 1.000 Provenienzmerkmale und 2.000 Bücher im Blick. Mehrere hundert Fälle von NS-Raubgut galt es zu klären. Davon zeigen wir hier nur drei. Manchmal hilft es, einen Schritt zurückzugehen, um weiterzukommen.
Ist die Vorbesitzerin oder der Vorbesitzer eines Buches einmal identifiziert, muss der Frage nachgegangen werden, ob sie, er oder die Institution im Nationalsozialismus verfolgt worden ist. Der persönliche Lebensweg bzw. die Geschichte einer Institution sind untrennbar mit den äußeren politischen und sozialen Bedingungen zwischen dem Beginn der NS-Diktatur am 30. Januar 1933 und ihrem Ende am 8. Mai 1945 verbunden. Um ein Buch als NS-Raubgut bewerten zu können, muss das Verfolgungsschicksal seiner Vorbesitzer_innen geklärt werden, was aber nicht immer lückenlos möglich ist.
Sobald geklärt ist, wer zum Zeitpunkt der Enteignung durch das NS-Regime Eigentümer_in eines Buches gewesen ist, kann die Suche nach Erb_innen und Nachfahr_innen beginnen. Handelt es sich um Eigentum von Personen, müssen Familienstrukturen lückenlos rekonstruiert, Kinder, Ehepartner, nahe oder entfernte Verwandte identifiziert werden. Waren geraubte Bücher im Eigentum von Institutionen, muss überprüft werden, ob es einen Rechtsnachfolger gibt. Sind sie gefunden, steht einer Restitution, d.h. einer Rückgabe, nichts mehr im Weg. Die dadurch in den Regalen der SLUB entstehenden Lücken symbolisieren den erfolgreichen Abschluss der oft Jahre dauernden Bemühungen um Aufklärung und Annäherung an die ursprünglichen Eigentumsverhältnisse.
Nach 1945 wurde die Arbeiterbibliothek in Rathenow nicht wiederbegründet. Es gibt also keine Nachfolgeeinrichtung.
Was aber passiert mit einem Buch, das keinen Erben zurückgegeben werden kann? Es bleibt vorerst in der SLUB und wird als NS-Raubgut kenntlich gemacht. Möglich wäre auch eine Rückgabe an eine_n ideelle_n Nachfolger_in, die/der im Sinne bzw. der Tradition der Arbeiterbibliotheken wirkt.
1947 schlossen sich die 1945 neugründeten freidenkerischen Organisationen Baden-Württembergs unter dem Namen Freireligiöse Landesgemeinde Württemberg zusammen. Die Mitglieder vertraten Vereinigungen, die 1933 verboten worden waren. 1953 wurde die Landesgemeinde als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. 2005 erhielt sie den Beinamen „Die Humanisten“ und firmiert seit 2013 unter dem Namen Die Humanisten Baden-Württemberg K.d.ö.R. Am 11. September 2020 konnte die SLUB insgesamt sechs Bücher aus dem Eigentum ehemaliger württembergischer Freidenkergruppen restituieren.
Lücken sind unvermeidbar! Vorbesitzer_innen und Besitzer_innenwechsel lassen sich nicht immer lückenlos ermitteln.
Es bleiben offene Fragen und unbewiesene Vermutungen. Die „Washingtoner Erklärung“ – die Grundlage der Suche nach NS-Raubgut – weist auf diesen Umstand explizit hin: „Bei dem Nachweis, dass ein Kunstwerk durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt und in der Folge nicht zurückerstattet wurde, sollte berücksichtigt werden, dass aufgrund der verstrichenen Zeit und der besonderen Umstände des Holocaust Lücken und Unklarheiten in der Frage der Herkunft unvermeidlich sind.“ Dann müssen „gerechte und faire Lösungen“ gefunden werden!
Die Ausstellung "mind the gap. Von geraubten Büchern, fairen Lösungen ... und Lücken" schließt das Projekt "NS-Raubgut in der SLUB - Erwerbungen nach 1945" ab, das an der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek von 2017 bis 2020 durchgeführt und von der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste finanziert worden ist.
Das Titelbild ist eine Collage von im Rahmen dieses Projekts dokumentierten Provenienzmerkmalen. Gestaltung und Animation übernahm Judith Andó.
Idee: Elisabeth Geldmacher, Jana Kocourek, Nadine Kulbe, Robin Reschke, Dominik Stoltz
Konzept und Texte: Elisabeth Geldmacher, Nadine Kulbe
Bildauswahl: Judith Andó, Elisabeth Geldmacher, Nadine Kulbe
Gestaltung, grafische Bearbeitung, Collagen, Animationen: Judith Andó
Redaktion: Elisabeth Geldmacher, Jana Kocourek, Nadine Kulbe, Robin Reschke, Dominik Stoltz
Für ihre Unterstützung danken wir Markus Stumpf sowie besonders Ulrike und Liv Migdal.
Die in der Ausstellung gezeigten Bilder wurden dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von:
- Deutsche Fotothek, Dresden
- Domstift Brandenburg/Archiv
- Ernst-Haeckel-Haus, Jena
- Gedenkstätte Münchner Platz, Dresden
- Hanuš Weber
- Jüdisches Museum, Prag
- National Archives Washington/Ardelia Hall Collection
- Stolpersteine für Dresden e.V.
- Tschechisches Nationalarchiv, Prag
- Ulrike Migdal
- Yad Vashem Archives, Jerusalem
Diese Ausstellung wurde am 19.03.2021 veröffentlicht.
Die virtuelle Ausstellung mind the gap wird veröffentlicht von:
Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek
Telefon: +49 351 4677-123
Fax: +49 351 4677-111
E-Mail: Generaldirektion@slub-dresden.de
Inhaltlich verantwortlich:
Annemarie Grohmann
SLUB Dresden
Zellescher Weg 18
01069 Dresden
E-Mail: Oeffentlichkeitsarbeit@slub-dresden.de
Kurator*innen:
Elisabeth Geldmacher, Nadine Kulbe (raubgut@slub-dresden.de)
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