Die Suche nach dem zipfelflügeligen Schnalzfalter
Ein Mädchen, das zur Zeit der napoleonischen Kriege in Wien aufwächst, die gesellschaftlichen Umbrüche sind greifbar, und vielleicht auch deshalb darf sie sich von Seiten des Vaters aus ihren fünf Brüdern anschließen, sich kleiden und spielen wie sie. Nach dessen Tod wird sie von der Mutter in die konventionelle Frauenrolle gedrängt, verliebt sich, muss aber eine Vernunftehe mit einem 24 Jahre älteren Rechtsanwalt eingehen, der verarmt: Das ist die Ausgangssituation der Heldin, die Linda Schwalbe in den Mittelpunkt ihrer Geschichte von Ida und die Welt hinterm Kaiserzipf stellt. Die Illustratorin entführt uns im Ouvertüren-Bild in das Wien des Jahres 1802, klare, satte Acrylfarben, szenisch an die Blauen Reiter und Bauhäusler erinnernd, dann zoomt die Betrachterin spielerisch vor das Wohnhaus jener Ida Reyer und ihrer Träume und Sehnsüchte in einer Gedankenblase: Abenteuer, die der exotischen Vorstellungswelt jener Zeit entsprechen.
Die realen Freiräume nutzend, erobert sich Ida mit ihren Brüdern spielend ihr Umfeld, und Schwalbe zeigt, wie sich Ida in die Rolle der Urwalderforscherin und Schmetterlingsentdeckerin hineinträumt, lesend, schreibend, zeichnend, malend. Krabbelnde Insekten sammelt sie mit botanischem Interesse. Die heiteren Farben der Kindheit tauscht Schwalbe gegen düster blauschwarze Kulissen, als Idas Mutter das Regiment übernimmt; wie in biedermeierlichen Stickrähmchen breitet die Künstlerin die mütterlichen Dressurversuche aus, die in Ida Widerstand erzeugen. Als Entwicklungsschaubild sehen wir das Heranwachsen, Heirat, aus Ida Reyer wird Ida Pfeiffer, zwei Kinder, die als junge Männer das Haus verlassen. Die anschließende Leere liegt noch im dunklen Blau und dann hellt sich der Hintergrund sichtbar auf, als sich die 44-Jährige auf ihre Expeditionsträume rückbesinnt. Das Abschneiden der Haare gestaltet Schwalbe zum Akt der Befreiung.
Was gehört alles in einen Abenteuerkoffer? Mit solchen Fragen nimmt Schwalbe die kindlichen Betrachterinnen mit und lässt den Hörerinnen Wörter wie „zipfelflügeliger Schnalzfalter“ zum lustvollen Nachsprechen zukommen. Oskar-Schlemmer-artige Figuren bevölkern den Hafen, Ida ist eine von ihnen, lebt auf dem Schiff wie die Matrosen, und Schwalbe nutzt den Pinselschwung für turbulente Sturmszenen. Endlich geht dann Idas Traum in Erfüllung, sie betritt einen anderen Erdteil, eine Insel, die Schwalbe mit aller Farbigkeit und vielerlei Formen von Flora und Fauna gestaltet. Die Entdeckungen hält sie in Form botanischer und ethnologischer Skizzen fest und lässt ihre Heldin auf Ureinwohner treffen, insbesondere auf eine Frau namens Ayu, die ihr ihre verborgene Stadt zeigt und sie zu einem Fest einlädt. Schwalbe versucht, das Fremde in variantenreichen Formen und Farben einzufangen und zeigt zum Abschluss in einer Rückblende die sich erinnernde Ida am Schreibtisch. Denn Ida Pfeiffer unternahm von 1842 bis zu ihrem Tod 1858 sieben lange Forschungsreisen, über die sie Reisetagebücher schrieb. Die insgesamt 13 Bände wurden Bestseller, mit denen Pfeiffer ihre Reisen finanzieren konnte.
Das Bilderbuch ist eine Hommage an eine mutige Frauenfigur und vermittelt eine wichtige Botschaft: Konventionen kann man missachten, Träume kann man leben. Die Biografie ist ein erzählendes Sachbuch: Schwalbe bezieht Schaubilder, Landkarten, Vita etc. mit ein, nutzt aber virtuos die erzählerischen Möglichkeiten und holt die jungen Leser visuell ab, regt mit ihren Bildern zum Weiterspinnen an. Und falls Sie sich die ganze Zeit gefragt haben, was es denn mit dem Kaiserzipf im Titel auf sich hat: Das ist ein 340 Meter hohes, spitz zulaufendes Waldstück im Wiener Gemeindebezirk Hietzing, aus der Perspektive des Kindes schon ein großer Berg.
Laudator: Dr. Stefan Hauck