Die Versteigerung der Sammlung Grisebach am 29. April 1930 in Berlin
BERICHT DES ARCHIVARS DER SCHOPENHAUER-GESELLSCHAFT VOM MAI 1929 BIS SEPTEMBER 1931.
Das wichtigste Ereignis für das Schopenhauer-Archiv, das seit der letzten Tagung der Schopenhauer-Gesellschaft in Frankfurt a. M. Pfingsten 1929 vorgefallen ist, war die Versteigerung der Schopenhauer-Sammlung Eduard Grisebachs, weil in ihr 72 Bücher aus Schopenhauers Besitz angeboten wurden, die Grisebach zum größeren Teil wohl von der mit der Verwertung der Bibliothek Schopenhauers beauftragten Firma Joseph Baer & Co. gekauft hatte. Das Porträt Schopenhauers aus dem Besitze Lindners, das dritte der von Lunteschütz gemalten Schopenhauer-Porträts, habe ich schon vor einigen Jahren aus dem Nachlaß Grisebachs erworben, während die Bücher, die im Besitze eines Landrates a. D. von Brüning auf Rügen waren, jeder wissenschaftlichen Forschung entzogen und ängstlich zurückgehalten worden sind. Ich habe über den Verlauf der Auktion Grisebach sogleich nach der Versteigerung dem Vorstand ausführlich berichtet. Einen Auszug aus diesem Bericht mit dem Ergebnis lasse ich hier zunächst folgen.
Ich fuhr Dienstag, den 29. April nach Berlin und habe mich sofort nach meiner Ankunft mit Herrn Breslauer in Verbindung gesetzt, um die Situation zu sondieren. Es stellte sich alsbald heraus, daß mein Plan, die Sammlung nach Einzelausgebot en bloc zu erwerben, unausführbar war, denn Herr Breslauer schätzte jetzt den Wert der 72 Bücher aus Schopenhauers Besitz auf insgesamt 35 000 RM. Das stand mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln in einem solchen Mißverhältnis, daß sich wohl nichts anderes tun ließ, als die Versteigerung abzuwarten.
Ich habe es nun für meine nächste Aufgabe gehalten, die 72 Bücher genau kennen zu lernen, um mir auf Grund dessen ein Urteil über ihren wissenschaftlichen und materiellen Wert zu bilden. Dies habe ich in den Mittagspausen sowie morgens vor und abends nach der Auktion der Sammlung Grisebach, die schon am Dienstag begonnen hatte, sehr gut tun können. Ich habe dabei den Eindruck gewonnen, daß die Sammlung Grisebach, ohne daß ich natürlich ihre Bedeutung in Abrede stellen will, durch den Katalog reichlich aufgeblustert worden ist.
Schopenhauer war ein Leser, der sich, wenn er ein Buch durchlas, mit dem Autor auseinandersetzte, und diese Auseinandersetzung macht seine Bücher für uns so interessant und für die Wissenschaft wertvoll. Diese Auseinandersetzung selbst erfolgt in dreifacher Form: 1. Schopenhauer unterstreicht in seinen Büchern Sätze, macht Striche am Rand, denen er manchmal Ausrufungszeichen und Fragezeichen hinzufügt. Ich will diese Art der Auseinandersetzung Lesespuren nennen. 2. Schopenhauer ist vielfach bei der Lektüre gereizt und setzt seinen Zorn in allerlei Invektiven um (Esel, liber stultissimus, asinus, Kapuzinade u. dgl.). Nennen wir diese Art der Auseinandersetzung Invektive. 3. Schopenhauer setzt sich mit dem Autor in mehr oder weniger eingehenden Randbemerkungen auseinander, die zum Teil den Charakter kleiner Abhandlungen annehmen können. Sprechen wir hier von Randbemerkungen.
Nach dieser Klasseneinteilung gehören die meisten Bücher der Sammlung Grisebach unter die Klasse 1 und die Klasse 2, nur die wenigsten in die Klasse 3. Es versteht sich, daß der wissenschaftliche Wert vorwiegend der 3. Klasse zukommt.
Die Summe, die wir für die Sammlung Grisebach zusammenbringen konnten, betrug 6100 RM. Ich stand nun vor der Wahl, entweder eine größere Zahl von Büchern aus der Klasse 1 und 2 oder eine geringere Zahl von Büchern aus der Klasse 3 zu erwerben. Es war nun meine Meinung, die auch auf telegraphische Anfrage Dir. Oehler bestätigte, daß ich nach Möglichkeit Bücher aus der Klasse 3 erwürbe, auch wenn es sich nur um wenig Hauptstücke handeln könnte.
Um dazu noch etwas Grundsätzliches zu sagen, soll meines Erachtens das Schopenhauer-Archiv, schon in Anbetracht der Beschränktheit seiner Mittel, nicht Reliquien kaufen, sondern Schopenhauer-Manuskripte, wozu eben auch seine Bücher gehören, die für die wissenschaftliche Forschung dauernd wertvoll bleiben werden. Wenn ich ein Buch, das Schopenhauer in seiner Bibliothek gehabt hat, in einem anderen, nicht von ihm besessenen Exemplar im Archiv habe und trage darin nach seinem Handexemplar seine Unterstreichungen, Striche und Ausrufungszeichen genau ein, so ist dies Buch für die Wissenschaft genauso benutzbar wie sein Handexemplar, und ich brauche nicht den Mehrwert zu bezahlen, der eben nur dem Reliquiencharakter des Buchs zukommt.
Bei der Auktion gelang es mir, folgende fünf Bände zu erwerben:
- Huarte, Examen de ingeniös para las sciencias, mit ausführlichen Bemerkungen Schopenhauers über den Autor und seine Werke und einem schönen Profilkopf auf dem Einbanddeckel.
- Zwei Abhandlungen von Lassaux mit eigenhändiger Widmung an Schopenhauer -und ein paar guten und ausführlichen Invektiven.
- Schopenhauers Exemplar der Werke Popes in drei Bänden, mit ziemlich viel Anmerkungen und einem schönen Profilkopf.
- Schopenhauers Schleiermacher mit einigen Randbemerkungen.
- Ein altes Buch über die Weisheit der Inder von Starkius, mit einer zwei Seiten langen Abhandlung Schopenhauers über Kalila und Dimna.
Ich habe im ganzen für diese Bücher 1598,50 RM. ausgegeben.
In diesem Jahre wurde für das Schopenhauer-Archiv aus den von der Stadt Frankfurt zur Verfügung gestellten etatmäßigen Mitteln nur ein Schopenhauer-Brief (der im letzten Jahrbuch auf S. 358 bei Gelegenheit der Feier des siebzigsten Todestages Schopenhauers veröffentlicht wurde) erworben, da er biographisch von einem besonderen Interesse ist. Im übrigen wurde vor allem aus der Schopenhauer-Literatur zur Ergänzung der wissenschaftlichen Bibliothek gekauft.
Eine Reihe von Stiftungen wurden dem Schopenhauer-Archiv gemacht, unter anderen von C. V. E. Carly eine schwedische Übersetzung einer Auswahl aus Schopenhauers Werken in vier Bänden, sowie von Dr. Kurt Böninger ein mit vielen Exzerpten aus Schopenhauer bereichertes und seine Philosophie vertretendes Werk „Grundlagen und Bekenntnisse einer Weltanschauung“. In der letzten Zeit ist es mir gelungen, das Bett, in dem Schopenhauer schlief, ausfindig zu machen, und es wird wohl durch Stiftung dem Schopenhauer-Archiv überwiesen werden, wenn auch zunächst von einer Aufstellung abzusehen sein wird.
Leider wird uns in diesem Jahre die etatmäßige Subvention der Stadt Frankfurt für das Schopenhauer-Archiv nicht mehr zur Verfügung stehen, und es ist zu befürchten, daß wir zunächst solche wertvollen Erwerbungen, wie sie zwischen den Jahren 1924 und 1930 möglich waren, nicht mehr werden machen können. Gerade das aber muß uns Veranlassung geben, uns auf die eigentlichen Aufgaben des Schopenhauer-Archivs als eines Zentralinstituts der Schopenhauer-Forschung zu besinnen, und uns nun in erster Linie solchen Aufgaben zuzuwenden, die in wissenschaftlichem Interesse getan werden müssen und die ohne den Aufwand erheblicher Mittel auch getan werden können.
Im großen sehe ich drei wesentliche Aufgaben des Schopenhauer-Archivs:
- Das Schopenhauer-Archiv muß in Ausführung des letzten Willens Schopenhauers alle Bilder sammeln, wenn möglich im Original, die Schopenhauer darstellen. Diese Aufgabe hat das Schopenhauer-Archiv im wesentlichen gelöst, wenn man von zwei Bildern absieht, die dem Archiv wohl auch noch zufallen werden, und wenn man vom Gwinnerschen Besitz absieht.
- Das Schopenhauer-Archiv muß ein vollständiges Schopenhauer-Epistolarium anlegen. Es besitzt vom Schopenhauer-Briefwechsel im Original ein sehr wichtiges Stück: den Briefwechsel mit Becker. Daneben eine Reihe anderer Briefe Schopenhauers und einen beträchtlichen Teil der an Schopenhauer gerichteten Briefe. Es muß sich nun angelegen sein lassen von allen Briefen Schopenhauers photographische Reproduktionen anfertigen zu lassen, so daß man den authentischen Wortlaut jedes Briefes im Schopenhauer-Archiv sogleich festzustellen in der Lage ist.
- Das Schopenhauer-Archiv muß in der Bibliothek Schopenhauers lückenlos die geistige Werkstatt Schopenhauers rekonstruieren. Wir besitzen das (aus bestimmten Gründen bisher noch nicht veröffentlichte) Inventar der Bibliothek Schopenhauers, die aus ca. 1200 Büchern bestand. Von diesen 1200 Büchern besitzen wir in Schopenhauers Handexemplaren einhundertfünfzehn. Wir wollen jetzt aus den Beständen der Stadtbibliothek alle Werke herausziehen, von denen wir wissen, daß Schopenhauer sie in seiner Bibliothek besessen hat. Diese Werke sind heute, vom Standpunkt der Bibliothek aus gesehen, ein Ballast, da es sich in der Regel um veraltete wissenschaftliche Bücher handelt, und können sehr wohl, womit sie ja nicht aus der Stadtbibliothek herauskommen, im Schopenhauer-Archiv zusammengestellt werden, was in der Kartothek nur vermerkt zu werden braucht. Dazu sollen wir systematisch jedes Buch sammeln, von dem wir wissen, daß ein Exemplar davon Schopenhauer besessen hat. Diese Bücher können uns dann dienen, sofern uns die Handexemplare zugänglich sind, daß wir sorgfältig in jedes Buch die Striche, Ausrufungszeichen und Invektiven Schopenhauers eintragen, und dazu seine Randbemerkungen in photographischen Abdrücken einkleben. Verfahren wir so, dann braucht es uns nicht leid zu tun, wenn wir auch Bücher aus Schopenhauers Bibliothek nicht kaufen können. Ich habe mit Besitzern von Büchern aus Schopenhauers Bibliothek schon vereinbart, daß sie uns ihren Besitz zum Zwecke einer solchen Kopie zur Verfügung stellen.
Frankfurt a. M. CARL GEBHARDT.
Aus: 19. Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft (1932), S. 398-401