Von außen gemacht: Politische Karten und falsche Bilder von Dersim
Dersim wurde über Jahrhunderte hinweg von außen beschrieben – zunächst durch staatliche Behörden, später auch durch politische Bewegungen. Diese Perspektiven haben zahlreiche verzerrte Bilder hervorgebracht. Sie blendeten häufig die tatsächlichen Erfahrungen der Menschen in Dersim aus oder verdrängten sie sogar vollständig.
Vom späten Osmanischen Reich bis in die frühe Türkische Republik hinein zeichnen offizielle Berichte, Militärakten und Reisebeschreibungen ein Bild von Dersim als gefährlichem Gebiet: „rückständig“, „ungläubig“ und „unzivilisiert“. Solche Narrative bereiteten den Boden für Gewalt und Repression. Das sogenannte Tunceli-Gesetz von 1935 und die darauffolgende Militäraktion von 1937–38 führten zu massiven Massakern, Zwangsumsiedlungen und zur Auslöschung des Namens „Dersim“ von offiziellen Landkarten. Die religiöse Welt und das Wissen der Menschen vor Ort wurden systematisch unsichtbar gemacht.
Ab dem späten 18. Jahrhundert begannen auch europäische Reisende und Missionare, Dersim aus ihrer eigenen Perspektive zu beschreiben. Sie zeichneten ein Bild der Region als mystisch, uralt und „vergessen“ – ein terra incognita, bewohnt von vermeintlichen Nachkommen antiker Zivilisationen. Diese romantisierten Darstellungen unterstützten – oft unbewusst – die Vorstellung, dass Dersim „zivilisiert“ werden müsse. Eine Vorstellung, die später von der modernen Türkischen Republik übernommen wurde. Auch diese Erzählungen ignorierten, wie die Menschen in Dersim selbst ihre Sprache, Religion und ihr Verhältnis zum Land verstehen.
Seit den 1990er Jahren haben sowohl die kurdische als auch die alevitische Bewegung – in der Türkei und in der westlichen Diaspora – neue politische Narrative über Dersim entwickelt. Die Region, in der die Auseinandersetzungen zwischen Guerilla-Gruppen und dem Staat besonders intensiv waren, wurde zunehmend zum Symbol für Widerstand und kollektive Identität.
Für die kurdische Bewegung ist Dersim ein historischer Ort des Aufbegehrens. Der Koçgiri-Aufstand von 1921 und der Genozid von 1938 sind zentrale Ereignisse im kollektiven Gedächtnis. Doch häufig werden Kırmanckî-sprechende Dersimli mit Kurmanckî-sprechenden Kurden gleichgesetzt – wodurch die besondere Identität Dersims in den Hintergrund gerät.
In der alevitischen Bewegung wiederum stand im Kampf um rechtliche Anerkennung lange ein einheitliches, säkulares und linkes Alevitentum im Vordergrund. Diese Sichtweise ließ wenig Raum für die reiche Kosmologie der Raa Haqî-Religion, für die Kırmanckî-Sprache und die spirituelle Verbundenheit mit der Natur.
Gerade im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Bewegungen formierte sich eine eigene „Dersim-Identität“ – als Antwort auf äußere Zuschreibungen, aber auch als Suche nach dem Selbst. Eine Identität, tief verwurzelt in der Raa Haqî-Religion, der Kırmanckî-Sprache und -Musik sowie in den heiligen Orten, den sogenannten Jiare.
All diese äußeren Deutungen – ob durch Staaten, politische Bewegungen oder Institutionen – haben häufig das Entscheidende übersehen: Für die Raa Haqî-Gemeinschaft ist Dersim kein bloßer geografischer Raum. Es ist eine heilige Heimat, ein Ort voller Erinnerung, Spiritualität und lebendiger kosmologischer Präsenz.