1 | Preußen unter ferner liefen?
Zum neuen Selbstverständnis der preußischen Herrscher
Wenngleich Preußen unmittelbar nach der Reichsgründung zur Hegemonialmacht des Kaiserreichs wurde – die Skrupel, mit denen König Wilhelm I. (1797–1888) seiner neuen Kaiserwürde entgegensah, wogen zunächst schwer (1.1; 1.3). Mit der gesamten preußischen Führungsschicht teilte er die Sorge, dass Preußen und der preußische König gänzlich hinter „Kaiser und Reich“ zurücktreten könnten. Die Tatsache, dass er mit „Rex et Imp.“ paraphierte, begründete er so: „Nur das Eine bin ich ganz.“ Ihn verdross es, Herrscher Preußens, aber nicht des Deutschen Reiches zu sein. Der neue Titel „Deutscher Kaiser“ – und nicht „Kaiser von Deutschland“, wie von Wilhelm I. favorisiert – war die Kompromissformel, die der neuen ausgesprochen föderalen Verfassungswirklichkeit des Deutschen Reiches am nächsten entsprach. Wilhelm I. war lediglich „Primus inter Pares“, der Vorsitzende eines Bundes souveräner Fürsten, die sich 1870/71 nach langen und zähen Verhandlungen darauf geeinigt hatten, das deutsche Kaiserreich zu bilden.
Allen Vorschlägen, den 18. Januar 1871 zum Nationalfeiertag zu erheben, wurde umgehend eine Absage erteilt. Die Erinnerung an die erste preußische Königskrönung sollte nicht dem Gedenken an die Reichsgründung geopfert werden. Dabei waren die meisten dieser Vorbehalte schon auf den ersten Blick unbegründet: Nahezu zwei Drittel des Reichsgebiets waren preußisches Territorium. Auch in demographischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht blieb Preußen deutsche Vormacht. Darüber hinaus wurde der preußische Einfluss im Kaiserreich dadurch verstärkt, dass das Reich zunächst nur sehr wenige eigene Behörden besaß und es für die Erfüllung der verfassungsgemäßen Aufgaben, wie auf dem Gebiet der Gesetzgebung, auf preußische Institutionen (Marineministerium, Generalpostamt, preußische Bank) angewiesen war, die erst nach einer gewissen Zeit in Reichsbehörden umgewandelt werden sollten. Dadurch allerdings sollte sich das Verhältnis Reich – Preußen in den 90er Jahren umkehren. Denn nun übernahmen die Reichsämter die Führung der Reichspolitik, womit allmählich auch Preußen im Reich aufgehen sollte.
Für die eigentliche Bedeutung seines Kaisertitels als Integrationskraft hatte Wilhelm I. zunächst wenig Verständnis. Kaiserkult sowie Devotions- und Loyalitätsbekundungen begegnete er mit „soldatischer Reserviertheit“. Dennoch wuchs er recht schnell in die Rolle eines allseits beliebten, wahrhaft populären Volkskaisers hinein, der trotz seines hohen Alters ein umfangreiches Pensum gesellschaftlicher Auftritte und politischer Verpflichtungen scheinbar mühelos bewältigte.
Sein Sohn, Kronprinz Friedrich Wilhelm (1831–1888), sollte aufgrund seiner Krebserkrankung keine Chance mehr bekommen, als Herrscher seine Vorstellungen von einer Legitimität der Hohenzollern auf die errungene Kaiserwürde zu vertreten. Mit der Kaiserproklamation seines Vaters verband er vor allem mittelalterlich-romantische Aspekte. Geradezu besessen war er von der Idee, dass der König von Preußen als Deutscher Kaiser das Erbe der alten tausendjährigen deutschen Kaiserwürde antreten werde (1.5).
Der vom Gottesgnadentum seiner Herrschaft überzeugte Kaiser Wilhelm II. (1859–1941; 1.7) versuchte dagegen unter Zuhilfenahme historischer, politischer und religiöser Mythen die Hohenzollernmonarchie tief in der deutschen Geschichte zu verorten und, mit nicht geringem Erfolg, das neue Kaisertum zum politischen Symbol der Einheit der Nation zu erheben. Darüber hinaus bemühte er sich, seinem Großvater eine Schlüsselrolle für die Herstellung der Reichseinheit zuzuschreiben und damit ein Gegenbild zum Bismarckmythos zu schaffen. Bereits 1887 hatte Wilhelm, damals noch Kronprinz, dem Kanzler vorgeschlagen, das Gottesgnadentum als Instrument zu benutzen, um den hohenzollernschen Anspruch auf die Kaiserwürde gegenüber den anderen Fürsten durchzusetzen, was Bismarck noch verworfen hatte (Hasselhorn, 2012). Wilhelm II., der sein Reich weder nach innen noch nach außen gefestigt wähnte, reagierte noch Anfang des 20. Jahrhunderts äußerst gereizt, wenn man die Legitimität der Hohenzollern(-vor-)herrschaft über das Deutsche Reich auch nur im Ansatz in Zweifel zog (1.6).