Überall Spione!
Zu den neuartigen Filmgenres und -subgattungen, die der Erste Weltkrieg hervorbrachte, zählt der Spionagefilm. Spionage war zur Zeit des Kriegsausbruchs längst ein beliebtes Thema der Populärkultur, in Europa wie auch in Nordamerika. Vor allem nach dem Burenkrieg (1899–1902) grassierte in vielen Ländern die „Spionitis“, eine verbreitete Paranoia vor feindlichen Geheimagenten. Literaturschaffende fanden darin dankbare Stoffe etwa für Detektivgeschichten, und bereits um 1900 kursierten auch Kurzfilme, in denen die Exekution gefasster Spione nachgestellt wurde. Kurze Spielfilme mit Spionen als Heldenfiguren entstanden zunächst in den Vereinigten Staaten, darunter The Hero of Liao-Yang (1904) oder How Mrs. Murray Saved the American Army (1911).
In Europa wiesen Spielfilme Spionen eher die Rolle von Antagonisten oder zumindest zwielichtigen Figuren zu, so etwa in Das Mädchen ohne Vaterland (Deutschland 1912) oder The Foreign Spy (Großbritannien 1913). In dem womöglich ersten abendfüllenden Spielfilm über ein Spionagethema, der dänischen Produktion Det hemmelighedsfulde X (1914), wird der Held zu Unrecht als Agent verdächtigt. Ebenso ergeht es der Hauptfigur des dänischen Dramas Mit Fædreland, min Kærlighed (1915). Womöglich stand das Hinterlistige, das der Agententätigkeit anhaftet, in zu starkem Widerspruch zum Ideal einer ehrenhaften Kriegführung, wie sie alle Kriegsparteien für sich in Anspruch nahmen, als dass ein europäischer Spielfilm mit einem Spion als Held hätte reüssieren können.
In Hollywood, wo Filmschaffende weniger scharfen Zensurbestimmungen unterlagen als in Europa, durften Spione dagegen zu Helden werden – sogar auf dem europäischen Kriegsschauplatz (In the Hands of the Enemy, 1915). Zugleich entdeckten amerikanische Produktionsgesellschaften die Genrebildung als Prinzip der Verbilligung ihrer Filme und entwickelten auch für Spionagefilme konventionalisierte Muster. Beispielhaft lassen sich diese Muster in The False Faces erkennen, einem abendfüllenden Spionagefilm mit Henry B. Walthall in der Rolle eines Superhelden-Agenten. Paramount Pictures brachte den Film wenige Wochen nach Kriegsende heraus und nutzte darin Ereignisse des Ersten Weltkriegs wie den deutsche Überfall auf Belgien oder die Versenkung der Lusitania als abenteuerliche Kulisse für eine wendungsreiche Handlung. Auch in diesem Aspekt gibt der Film Aufschluss über die divergente und asynchrone Entwicklung zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Kino: In Europa wäre seichte Filmunterhaltung, die den Weltkrieg als Schauplatz nutzt, bei dem des Kriegs und seiner Bilder überdrüssigen Publikum kaum auf Zuspruch gestoßen.