Wirklichkeitsfluchten
In den Vorkriegsjahren bestanden Filmvorführungen in Europa gewöhnlich aus einer Abfolge kürzerer Filme verschiedener Gattungen wie Wochenschauen, Zeichentrickfilme, Landschaftsbilder oder Aktualitäten. Kurze Komödien und Dramen zählten ebenfalls zum Bestandteil der Programme, machten aber nur ein kleineres Segment der Filmproduktion aus. Während der Kriegsjahre kehrte sich dieses Verhältnis um. Die Zahl der Spielfilmproduktionen wuchs erheblich an, und andere Gattungen wie etwa Wochenschauen wurden Spielfilmen zunehmend nur mehr als Ergänzung beigeordnet. Im Laufe des Weltkriegs avancierte der Spielfilm zu dem am häufigsten hergestellten Filmprodukt Europas und zur Hauptattraktion eines Programms.
Es liegt nahe, die genannte Entwicklung mit dem Bedürfnis des Publikums zu erklären, Filme zur temporären Flucht aus der Wirklichkeit, zur Zerstreuung, zur Ablenkung vom zumutungsreichen Kriegsalltag zu nutzen. Für diese Deutung lässt sich anführen, dass das Publikum vor allem leichte Komödien und triviale Melodramen favorisierte. Das Wachstum des Spielfilmsegments hing aber auch damit zusammen, dass – je nach Land – die Schließung von Theatern, eine propagandistisch motivierte Filmförderung durch den Staat, ein generell hohes Informationsbedürfnis und weitere Faktoren der Filmwirtschaft Kapital zuführten, das die Produktion längerer und aufwändiger inszenierter Spielfilme erst ermöglichte. Produktionsgesellschaften stellten auch deshalb bevorzugt Spielfilme her, weil sie diese zu deutlich höheren Preisen und über längere Zeiträume vertreiben konnten als andere Filmgattungen. Das Publikum besuchte auch deshalb bevorzugt Spielfilme, weil diese nun eine gleichwertige Alternative zu einer – gewöhnlich teureren – Theateraufführung darstellten und als neuartige Form generell Neugier auf sich zogen. Eskapismus stellte also bei weitem nicht die einzige Ursache für die Zunahme der Spielfilmproduktionen dar.