Industrialisierung
Die Industrialisierung veränderte das Karlsruher Stadtbild nachhaltig und führte mit der Entstehung der neuen Schicht der Industriearbeiterschaft zu tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen. Dieser Prozess begann in den 1840er-Jahren, als es durch die Eisenbahn zu einer ersten Industrialisierungswelle kam. Bereits damals begann sich der Maschinenbau als zukünftig zentraler Sektor der Karlsruher Industrie zu etablieren.
In dem in direkter Nachbarschaft zum neuen Hauptbahnhof entstehenden ersten Karlsruher Industriegebiet hatte u. a. die Maschinenfabrik Keßler ihren Sitz, die 1841 mit der „Badenia“ die erste in Baden gebaute Lokomotive auslieferte. Sie gehörte damals wie auch später als Maschinenbaugesellschaft Karlsruhe zu den wichtigsten Arbeitgebern in der Stadt. Schon in der Zeit der Frühindustrialisierung wurde in Karlsruhe mit der Firma Haid & Neu eine der ersten Nähmaschinenfabriken in Deutschland gegründet, deren Produktion 1872 bereits fast 9000 Stück erreichte. Mit der zu dieser Zeit einsetzenden Hochphase der Industrialisierung entstanden weitere Maschinenbaubetriebe, unter denen die 1872 als Patronenhülsenfabrik gegründeten späteren Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken der bedeutendste war.
Neben dem Maschinenbau prägten besonders Betriebe der Nahrungs- und Genussmittelindustrie die Wirtschaft der Residenzstadt. So war die Stadt mit zeitweise 22 Betrieben eines der bedeutendsten Zentren des Brauereiwesens. Durch die Eingemeindung Grünwinkels im Jahr 1909 kam mit der Brauerei Sinner auch eine Firma nach Karlsruhe, die sich zu einem international operierenden Lebensmittelkonzern entwickeln sollte. Die stetig wachsende Zahl der Industriearbeiter lebte in Karlsruhe primär in den zu dieser Zeit entstehenden Statteilen Süd- und Oststadt oder im „Dörfle“ und überwiegend in alten Häusern oder den nun überall errichteten Mietskasernen.
Die Arbeiterwohnungen waren mehrheitlich dunkel, schlecht durchlüftet und klein. Die ungesunden Wohnverhältnisse führten im Verbund mit der schlechten Ernährung zu einer hohen Säuglingssterblichkeit, die in Karlsruhe 1905 immer noch bei 20 % lag. Das sehr niedrige Lohnniveau zwang nun auch die weiblichen Familienmitglieder zum Arbeiten und so lag der Anteil der berufstätigen Karlsruherinnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits bei 26 %. Die Zusammensetzung der Karlsruher Arbeiterschaft zeichnete sich gegenüber anderen Industriestädten durch die hohe Zahl von Arbeitern aus, die in den umliegenden Ortschaften lebten, welche sich im Zuge der Industrialisierung zu Arbeiterdörfern mit Nebenerwerbslandwirtschaft entwickelten.
Mit dem sich herausbildenden Klassenbewusstsein begann sich die Arbeiterschaft in Parteien, Gewerkschaften und Vereinen zu organisieren. So wurde 1869 in Karlsruhe ein Zweigverein des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gegründet, aus dem die SPD hervorgehen sollte. Mit dem „Volksfreund“ wurde das Parteiorgan der badischen Sozialdemokraten seit 1897 in Karlsruhe gedruckt. Unter den Gewerkschaften entwickelte sich der Deutsche Metallarbeiterverband zur mitgliederstärksten Gewerkschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Bis dahin waren in der Stadt auch zahlreiche kulturelle Arbeitervereine entstanden.